Grenzgänger
In meinem Reich geht die Sonne unter. Ich sehe wohl, dass sich nicht nur das Ende des Tages vor meinen Augen entfaltet. Auch die Welt, die ich über lange Zeit hinweg im Namen meiner Ahnen erbaute, kollabiert.
Jedes Ende geht einem Anfang voraus. Das hast du mir vor langer Zeit erzählt.
Obwohl mein Körper kraftvoll und jung ist, spüre ich, dass auch mein Ende als Anfang in mir eingeschrieben ist. An jedem Tag. In jeder Minute. Jetzt.
Seit langem schon bin ich traurig und trage den Tod in mir. Es scheint, als sei ich übervoll von Abschieden, Trennungen und Kompromissen.
Tränen in meinen Augen. Und mein Fokus verschwamm.
Wann, fragst du, wachst du endlich auf? Und nimmst dir, was seit langem dein ist?
Ich zögere. Die Sonne geht unter. Der heiße Tag verabschiedet sich. Ich lache und genieße deine Energie an meiner Seite. Du bist Freude. Kühnheit. Leidenschaft. Und Spiel. Geblendet von deiner Schönheit suche ich in mir nach deinem Sein…
Bis sich unsere Blicke begegnen. Ich tauche in deine leuchtenden Augen wie in einen blauen, tiefen See. Bin ein Funke, der verglüht. Du umarmst mich zärtlich. Und flüsterst in mein Ohr.
Wir sind eins. Suche nicht nach dem, was schon lange zu dir gehört. Lass mich mein Leben leben. Lebe du das deine. Wir brauchen die Nacht. Das Zögern, den Zweifel. Wir brauchen den Abschied. Und die Trauer über eine zerbrechende Welt.
Ich sehe dich. Und bin froh, dass es dich gibt. Denn wer sonst wäre da. Wie du es jetzt bist. Unter Schmerzen. Um die Zeit zwischen Ende und Anfang zu bezeugen.
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©️Text und Bild: Li Anna