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Wir stehen alle. Schulter an Schulter. Seite an Seite. Bewegungslos. Und stumm.
Was sind das für Wesen, fragst du mich, die sich nicht daran erinnern, dass Zeit eine Illusion ist? Die überall und gleichzeitig sein könnten. Ganz und gar im Jetzt. Doch anstatt ihr Bewusstsein glitzernd über die Materie zu verstreuen, das Strahlen hinter den Dingen einzusaugen und in ihm aufzugehen….stehen sie hier. Erstarrt. Aneinandergereiht und einander gleichend…
Ich bin einer von ihnen. Mitten in der Menge. Äußerlich aufrecht. Doch innerlich fühle ich mich erschlagen von der Gleichförmigkeit eines Ortes ohne Variation. Dichte, sterile Stille bedrängt mich. Fast habe ich Angst, mich zu bewegen. Denn meine bloße Existenz könnte die Ordnung stören…
Es ist alles menschengemacht.
Und wenn es anders wäre? Mein Herz schreit nach wilder Freiheit und meine Seele sehnt sich nach Raum, um ihre Größe zu fühlen. Selbst mein Körper, der physischste Teil meines Seins, möchte anders leben. Ausgelassen tanzend will er die Zeiten durchstreifen und alles, was ihn umgibt, mit jedem seiner Sinne erfahren.
Wie konnten wir die überbordende Vielfältigkeit, die uns geschenkt wurde, in diese Eintönigkeit verwandeln?
Dein Blick ist auf mich gerichtet. Er erfasst mich und saugt mich in sich auf. Wind reißt die ersten Blätter von den Bäumen.
Vielleicht, flüsterst du in den Wirbel der irdischen Masse, sehnt ihr euch nach der Einheit.
Ich nicke. Lasse mich in deine Arme fallen und versinke in dem leuchtenden Grün deiner Augen.
Das Eine ist ganz nah. Ich erkenne es in der Vielfalt. Und erforsche seine Natur in der Tiefe meines Wesens, das niemandem gleicht.
Die Erkenntnis ergreift mein Herz: Nur im Chaos werde ich einen Weg finden. Die ausgetretenen Pfade sind nicht dazu da, die Welt in ihre Bestimmung zu führen.
Da streichst du eine Träne von meiner Wange. Das Wasser tropft über deinen Finger und vereint sich mit den Meeren. Reihe dich nicht ein, höre ich deine Stimme im Rauschen der sich überschlagenden Schöpfung. Und höre auf zu warten. Gib dich den irdischen Stürmen hin, feiere deine Essenz, greife tief in die Materie hinein. Und beginne zu gestalten.
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©️Text und Bild: Li Anna