Du betrachtest gerade

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Sanft legst du deine Hand auf meine Schulter. Und ich wache auf. Meine Augen erblicken die Welt, wie sie war, bevor ich mich im Irdischen verlor:
Hell. Ruhig. Und frei.
Ich schaue in den blauen Himmel und beobachte einen Graureiher, der mit weiten Schwingen an uns vorbeizieht.
Und darüber, weit oben im Kosmos, tanzt Shiva. Der Gott der Zerstörung.
Du atmest tief ein, dass der Wind in den Bäumen rauscht…
Gib ab, was du nicht mehr benötigst, flüsterst du sanft in mein Ohr.
Shiva erbarmt sich aller Wesen. Er schmückt sich mit jenen, die keine Zuflucht haben. Die von niemandem gesehen werden. Und einsam im raumlosen Nichts schweben, weil sie nirgendwo ankommen dürfen.
Neugierig schaue ich ihm dabei zu, wie er auf einem Bein balanciert, während er sich um sich selbst dreht. Er schuf das Universum, als er seinen Fuß hob. Und er wird es wieder zerstören, sobald er ihn senkt.
Es ist egal, ob wir eine Heimat finden. Egal, ob wir schuldig sind. Egal, ob wir an diesem Leben hängen oder uns wünschten, es hätte nie begonnen: Wir sind aus dem Spiel entstanden. Als Spiel leben wir. Und spielend werden wir untergehen.
Du gähnst herzhaft. Ja, wir haben nur eine Wahl: mit Shiva zu tanzen. Und jeder Tanz findet irgendwann sein Ende.
Zitternd hebt er sein Knie höher. Die Erde bebt und für einen kurzen Augenblick halte ich meinen Atem an, denn die Wucht der aufgewirbelten Energie könnte ihn zu Fall bringen…
Und dann? fragst du mich und reibst deine Lider.
Ich weiß es nicht. Wenn ich nicht mehr bin, werde ich jemand anderes. Vielleicht finde ich dann das Leuchten der tiefen Ruhe, das ich jetzt so zwanghaft suche. Vielleicht werde ich Liebe in die Welt tragen, anstatt sie wie ein schwarzes Loch zu verschlingen. Vielleicht…
Du bist eingeschlafen. Ich spüre deinen regelmäßigen Atem in meinem Rücken.
Wie lange soll ich hier liegen und bangen, ob Shiva das Gleichgewicht verliert?
Ich hatte Angst zu vergehen. Und deshalb habe ich mich an meinen Verstand geklammert.
Jetzt seufze ich tief. Und lasse alles ziehen, was ich nicht mehr brauche. Ruhe, süße Ruhe legt sich auf meinen Geist. Und ich schließe meine Augen.
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©️ Text: Li Anna
Bild: @svenja.tengs