Du betrachtest gerade

  • Beitrags-Autor:

Gestern wurde der Wind kalt. Wenn ich jetzt innehalte, kriecht die Kühle in meine Glieder, lässt mein Blut gefrieren und macht mich steif.
Also muss ich in Bewegung bleiben. Und laufe weiter.
Schon lange habe ich den Sinn für die kleinen Dinge verloren. Jeder Tag läuft gleich ab und mein Wollen hat sich den Geschehnissen, die vor mir liegen, angepasst. Von Zeit zu Zeit erscheint eine Abzweigung von diesem Weg, doch ich laufe daran vorbei: Bevor ich die Gelegenheit erkenne, liegt sie auch schon hinter mir.
Müdigkeit hat mich ergriffen. Meine Beine schmerzen und ich fühle eine Verzweiflung in mir aufsteigen, die ohne Hoffnung ist…denn ich sehe sie auch in den Augen all jener, die mir begegnen.
Das Leben, wie wir es geschaffen haben, ist ruhelos und ohne Freude, sagt mir ihr Blick.
Und es erscheint keine Lösung…
Du bist bei mir. Jeden Tag und jede Nacht spüre ich deine Gegenwart. Doch du schaust mich nicht an. Du gehst neben mir. Und wartest.
Wenn ich in das Nichts lausche, das dich umgibt, höre ich leise deinen regelmäßigen Atem.
Doch wenn ich dich frage, wann wir uns endlich ausruhen können, schweigst du.
Erneut verpasse ich eine Abzweigung. Und weil es immer kälter wird, werde ich noch schneller…
Dieser Weg wurde nicht von mir gemacht. Und auch du scheinst dich in deiner Stille zu fragen, weshalb ich ihn gehe. Er durchzieht den Grünen Salon wie eine harte, gerade Linie. Teilt die wilde Schönheit meiner Welt und die Chance der physischen Existenz in zwei sinnlose Hälften. Etwas hat sich in die organische Entwicklung von allem hineingeschnitten und zwingt mich, ihm zu folgen…
Du zuckst mit den Schultern. Beharrlich schweigend. Doch stets zugegen.
Wieder liegt eine Abzweigung hinter uns.
Ich schließe die Augen. Heiße Tränen rinnen meine Wangen hinab.
Wir rasen weiter. Immer weiter. Und immer geradeaus.
.
.
©️Text und Bild: Li Anna